Christian Hermes: Kirche, Religion, Glaube: Aus der Zeit gefallen? (Kern-Gespräch Folge 21)
- Dr. Timm Kern sprach im Rahmen seines Formates „Kern-Gespräch“ mit dem Stuttgarter Stadtdekan Dr. Christian Hermes
- Themen wie kirchliche Reformen, sexualisierte Gewalt und interreligiöser Dialog kamen zur Sprache
Wie relevant sind Glaube und Kirche heute noch? Diese zahlreiche Aspekte umfassende Frage stand im Mittelpunkt der neuesten Ausgabe des Formates „Kern-Gespräch“, das der Landtagsabgeordnete Dr. Timm Kern (FDP) durchführt. Dieses Mal hatte er den Stuttgarter Stadtdekan Dr. Christian Hermes eingeladen, um mit ihm über Gegenwart und Zukunft der katholischen Kirche zu sprechen.
Daraus, dass er in der aktuellen Struktur der Kirche einige Probleme sieht, machte der Dekan dabei kein Geheimnis. Auf die Einstiegsfragen von Dr. Timm Kern, wovon die Kirche zu viel und wovon zu wenig habe, betonte Dr. Christian Hermes, sie habe zu viel Vergangenheit und zu wenig Zukunft. Was das aus seiner Sicht genau bedeute, wurde im weiteren Verlauf des Gesprächs schnell deutlich.
So kritisierte Dr. Christian Hermes beispielsweise auf die Frage des FDP-Politikers, welche Gründe es für die Abkehr von der katholischen Kirche gebe, deren Kurs in den letzten Jahrzehnten: „Wir haben Jahrzehnte eines rückwärtsgewandten, eines auch sehr stark zentralistischen, disziplinierenden Kurses unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. erlebt“, beschrieb er die Problemlage aus seiner Sicht. Sowohl konkrete Fragen wie die Gleichberechtigung aller Menschen in der Kirche als auch Strukturfragen blieben ungelöst.
Natürlich konnte das Gespräch auch nicht an der Frage der sexualisierten Gewalt in der Kirche vorbeigehen. Auch das sei ein wichtiger Grund für viele, sich von der Kirche abzuwenden, beschrieb der Stuttgarter Stadtdekan. Die, wie Dr. Timm Kern sie beschrieb, „unfassbaren, völlig inakzeptablen Skandale“ habe auch Auswirkungen auf die Arbeit vor Ort. Eine positive Auswirkung nannte Dr. Christian Hermes aber auch: Die Präventionsarbeit sei seitdem deutlich vorangekommen: „Ich glaube, wir haben da eine proaktive Verantwortung, die wir wahrnehmen wollen“, beschrieb der Dekan. Er räumte aber auch ein, dass der Missbrauchsskandal auch „unglaublich demotivierend“ für alle in der Kirche sei, die gute Arbeit leisteten.
„Da ist Glaubwürdigkeit einfach total zerstört worden“, analysierte Dr. Timm Kern. Dem stimmte der Stuttgarter Stadtdekan uneingeschränkt zu. „Eine Glaubensgemeinschaft, der die Menschen nicht mehr glauben, die hat ein existenzielles Problem“, nahm Dr. Christian Hermes kein Blatt vor den Mund. Das werde vor allem deswegen so deutlich, weil die katholische Kirche an den individuellen Menschen einen sehr hohen moralischen Anspruch setze und ihnen vorschreiben wolle, was richtig und falsch ist. Wenn dann das Gefühl vorherrsche, sie selbst halte sich an diese Ansprüche aber nicht, werde das natürlich umso kritischer verfolgt.
„Braucht es denn für Frömmigkeit, für Religiosität noch die Kirche?“, fragte der FDP-Abgeordnete nach. Dekan Dr. Christian Hermes wies dazu auf die soziale Funktion von Kirche hin. Man könne sich schließlich „nicht allein an einen Schreibtisch setzen und sagen, ich denke mir jetzt einmal eine Religion aus“, war sich der Geistliche sicher. Stattdessen stehe man als religiöser Mensch in einem größeren, jahrhundertealten Kontext. Auch Dr. Timm Kern sah einen Sinn darin, dankbar für die Existenz der Kirche zu sein: „Ich wüsste ja vermutlich nichts von Jesus Christus, würde es die Kirche nicht gegeben.“
Auch das Verhältnis von Kirche und Staat kam zur Sprache. Der ausgebildete Religionslehrer Dr. Timm Kern fragte explizit danach, wie zeitgemäß der Religionsunterricht in staatlichen Schulen ist. Dabei waren sich die Gesprächspartner einig, dass der Religionsunterricht als wertevermittelnder Unterricht weiter Relevanz habe, aber auch weiterentwickelt werden müsse. So sei neben dem Erhalt des christlichen Religionsunterrichts auch der flächendeckende islamische Religionsunterricht wichtig. Sonst gingen „die Kinder irgendwohin, wo sie irgendetwas erfahren, was häufig nicht besonders pädagogisch und didaktisch und theologisch hochsteht“, argumentierte Dr. Timm Kern dafür.
Gerade in einer Großstadt wie Stuttgart, die zunehmend pluraler werde, sei ein gutes Zusammenleben zwischen den verschiedenen Religionen entscheidend, schloss sich Dr. Christian Hermes an. In Stuttgart gebe es dafür den „Rat der Religionen“, in welchem man trotz aller existierenden Unterschiede im Gespräch bleibe. Dabei gehe es nicht um theologische Debatten, sondern darum, wie man ganz konkret in der Stadtgesellschaft zusammenleben möchte.
Zum Ende des Gesprächs spannten die beiden Gesprächspartner noch den großen Bogen zu allgemeinen gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Dr. Timm Kern äußerte Sorge darüber, dass die politische Mitte immer mehr unter Druck gerate und politische Ränder gestärkt werden. Dem konnte sich Dekan Dr. Christian Hermes anschließen. Er finde es „dramatisch, dass tatsächlich politische Bewegungen rechtsextremer Art wie die AfD (…) es tatsächlich schaffen, Menschen zu verführen, und zwar mit einfachen Methoden.“ Dabei sei die Zivilgesellschaft gefordert, sich von allen Tendenzen abzugrenzen, die einen Systemwandel wollen.
Mehr über Dr. Christian Hermes
Stadtdekan der katholischen Kirche von Stuttgart
Web: https://www.kath-kirche-stuttgart.de/